Straße 

Begegnung 

Ver's 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 


 

Alltägliche Begegnung
(Gleichzeitig eine kleine Widmung an meine allererste Freundin)
 
Der Schritt anmutig leicht, nicht federnd gestählt. Biegsam, fest und leicht. Eine aufrechte Gestalt. Bewußt, nicht stolz. Ich laufe hinterher, berühre ihren Nacken. Im Geiste nur, ich könnte ihr Vater sein.

Natürlich fallendes schulterlanges Haar. Aschblond, nicht gelb oder leuchtend. Kraft ausstrahlende Blässe - unwirklich? Ich komme näher, meine Finger könnten es wahr machen. Wollen sie? Diese tiefe Falte unterm Ohr. Rund um den gebräunten Nacken und in gesunder Harmonie zum Haar: Babyflaum, weißgrau. Leicht neigt sich der Kopf mit jedem Schritt von einer Seite zur anderen: Zur einen glättet sich die Falte, zur anderen verstärkt sie sich.

Ein kurzes Zögern der Gestalt, nur für den Bruchteil einer Sekunde. Vielleicht ein Erahnen meiner Beobachtung.

Um dieses winzige Zögern angenähert: Gegerbte Haut um den Hals, ein ziemlich großes Ohrläppchen, freihängend, drei Einstiche, einer besetzt mit einer Silberkugel, Silberhaare auf dem Ohr. Mein Gedanke geht zum hübschen Schnurrbart meiner Großmutter, die ich nicht leiden konnte, und mein Fuß holt einen halben Schritt Luft.

Noch ein halber Schritt zurück bringt wieder Übersicht: Schmal die Figur. Dieses Wiegen in der Hüfte bringt nur ein Mädchen zustande. Ein paar männliche Hormone in die Form der Körpersprache hineingespeichert, noch schnell zum Schluß der Pubertät. In genau dieses schlanke, kaum merkliche und gar nicht kokette Wiegen des Beckens meiner allerersten Freundin hatte ich mich verliebt. Zum allererstenmal damals. Weiche Schultern, stark und feminin. Der ganze Körper schwingt, Eleganz ohne Affekt. Musik der Bewegung, der Eindruck von nicht verlangsamender Zeitlupe.

Plötzlich ein Bruch: Ein winziges Stolpern (meiner Füße), und ich nehme Kleidung wahr. Bisher eine nackte Gestalt vor meinem geistigen Auge, jenseits von Geschlecht und Erotik. Dann diese Schuhe, Männerschuhe! Meine allererste Freundin, die mit der sanft wiegenden Hüfte, trug Männerschuhe, Sportschuhe meist. Leicht aber unübersehbar angeschmutzt. Nicht die billigsten und exakt in der Balance zwischen allernotwendigster Pflege und gerade noch nicht verkommenem Aussehen. In Verbindung mit kräftigen nackten Waden für mich heute noch der Inbegriff von Erotik. Pumps, zum entspannten Gehen völlig ungeeignet, waren für mich immer bloß ironische Materialisationen unerfüllter Träume.

Aber diese Gestalt vor mir ist etwas größer als meine allererste Freundin. Und die Waden sind nicht nackt. Eine weite Hose, leinenfarben, losgelöst von textilen Anmaßungen wie Alter, Geschlecht oder Mode. Ein knabenhafter Po zeigt seine Form im Faltenwurf der Bewegung. Ein ganz klein wenig zu kurz ist die Hose. Gerade so, daß es die Fesseln schlank betont, aber auch wieder nicht so kurz, daß es ärmlich erscheint. Eine Jacke aus Leder, ohne Raffinesse im Zuschnitt, wirkt durch die Selbstverständlichkeit des Tragens. Ich erinnere mich an Illustrationen in einem Jugendbuch über Indianer. Alle Männer und Frauen trugen dort die ganze Geschichte hindurch nur solche Jacken. So einheitlich und gleichzeitig unterschiedlich wie die Felle der Bären.

Dieser Schritt vor mir: Eine Nuance fester als bei anderen tritt die Ferse auf und sagt "hier bin ich". Und stößt um eben diesen Hauch die Hüfte etwas an, die darauf zu schwingen beginnt, kaum merklich, und dann weich auspendelt noch vor dem nächsten Schritt. Mein Gott, war ich verliebt in meine allererste Freundin!

Die eine Hand in der Hosentasche, die andere sehnig, ganz gelöst. Die Finger halten nichts und spielen nicht. Dann endlich will ich wissen ... Was will ich eigentlich wissen hier inmitten der Fußgängerzone unter all dem Geschiebe der vielen Menschen, nachdem ich gerade dreißig Sekunden lang zufällig in derselben Richtung hinter dieser Gestalt herlaufe?

Ein kurzes Innehalten, auf dem Absatz eine halbe Körperdrehung zurück zu mir. Geradeaus ein Blick zu mir. Tatsächlich nur ein Blick! Aus einem Auge. Ein warmes dunkelbraunes Auge. Ein warmer dunkelbrauner Blick aus breitem Gesicht. Das andere Auge aus Glas und irgendwie ganz leicht nach innen verschoben, anrührend und selbstsicher zugleich. Das Auge hat mich zufällig gestreift und galt trotzdem nur mir, flüchtig. Der Kopf wendet sich schon wieder ab, ganz leise zuckt es spöttisch um den Mund in diesem zerfurchten unrasierten Gesicht. Der schöne alte Mann biegt an der Kreuzung ab, meine Füße gehen geradeaus weiter. Nur meine Hand bewegt sich unkontrolliert kurz in seine Richtung, will ihn im Gehen noch berühren.

Ich könnte sein Sohn sein...

 

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